„Man hält die Menschen gewöhnlich für gefährlicher, als sie sind.“
J.W. von Goethe
Die Emotion Angst geht in den allermeisten Fällen Hand in Hand mit dem oftmals ebenso belastenden Gefühl der Scham. Aufgrund von Befürchtungen vor einer negativen Reaktion ihres Umfeldes, setzen Betroffene häufig alles daran, ihre Angst vor anderen Menschen geheim zu halten. Meist sind Scham und Geheimhaltung von der Angst vor Kritik, Bloßstellung oder dem Verlust von Anerkennung getrieben.
Ursache dessen sind oftmals negative Leitsätze, die im Laufe der Lebensgeschichte verinnerlicht wurden. Betroffene berichten häufig von abwertenden Kommentaren, die sie im Laufe ihrer Entwicklung von Bezugspersonen oder dem sozialen Umfeld anhören mussten, z.B.: „Sei kein Angsthase“, „Reiß dich mal zusammen“ oder „Angst ist ein Zeichen von Schwäche“. Diese teils auch kulturell verankerte Stigmatisierung von Ängsten hat jedoch gravierende Folgen: Betroffene neigen dadurch oft zu großer Scham und Selbstablehnung, was sich in Gedanken äußern kann, wie „Ich bin nicht normal“ oder „Irgendetwas stimmt nicht mit mir“.
Dies führt häufig zu der Annahme, sie seien mit ihrer Angst ganz alleine – was jedoch weitab von der Realität ist. Weltweit leiden mehrere Millionen Menschen an einer Angststörung und noch viele mehr an subklinischen, aber oft nicht minder belastenden Ängsten und Sorgen.
Die Frage, die ich meinen Klient/innen häufig stelle: „Wem haben Sie bislang von Ihren Ängsten erzählt?“ offenbart regelmäßig, dass meist noch nicht einmal die engsten Angehörigen (z.B. der/die Partner/in oder der/die beste Freund/in) über die eigenen Ängste Bescheid wissen. Zu groß ist die Angst vor Zurückweisung oder Bloßstellung.
Je größer die Scham, umso stärker ist auch das Bestreben, die Problematik vor anderen geheim zu halten. Dieses Sicherheitsverhalten verschlimmert die Angst jedoch langfristig zunehmend, anstatt sie zu lindern. Denn umgekehrt gilt dasselbe: Je stärker man die Angst nach außen hin zu verbergen versucht, umso stärker wird auch das Schamempfinden. Ein sich gegenseitig verstärkender Teufelskreis entwickelt sich!
Für das allenfalls kurzfristige Gefühl der Erleichterung, das die Geheimhaltung der eigenen Ängste vor anderen Menschen verschafft, zahlen Betroffene also einen hohen Preis. Nachfolgend werden die typischen langfristigen Folgen dieses problematischen Vermeidungsverhaltens beschrieben.
Das Verbergen der Angst und seine Folgen:
1) Aufrechterhaltung unangemessener Überzeugungen:
Geheimhaltung trägt meist zu einer verzerrten Selbst- und Fremdwahrnehmung bei, da sie keine realistische Überprüfung der eigenen Befürchtungen zulässt. Die Erwartung von Ablehnung verhindert nämlich den konstruktiven Austausch mit nahestehenden Personen, die Zuspruch und Unterstützung bieten könnten. Betroffene realisieren somit nie, dass andere Menschen oftmals viel weniger kritisch in Bezug auf die Problematik sind, als angenommen. Ganz im Gegenteil: In der Regel ist von Personen, die Ihnen wohlgesonnen sind, eine verständnisvolle und einfühlsame Reaktion zu erwarten. Zudem besteht sogar die Wahrscheinlichkeit, dass diese Ihre Ängste und Sorgen teilen oder in der Vergangenheit ähnliche Probleme gehabt haben, ohne sie jemandem anzuvertrauen…
2) Verstärkung von Angst und Sorge:
Es erfordert oft große Anstrengung, ein Geheimnis oder eine Fassade nach außen hin aufrechtzuerhalten, was das Stresserleben und somit auch Ängste und Sorgen verstärkt. Demgegenüber kann es sehr befreiend sein, die Wahrheit offen auszusprechen und sich von diesem Druck zu lösen. Denken Sie daran: Die Erwartungsangst beim Gedanken an die Reaktion Ihres Gegenübers ist meist deutlich schlimmer, als die eigentliche Situation selbst. Hier spielt der Denkfehler des Katastrophisierens häufig eine große Rolle (s. „Die 8 häufigsten Denkfehler“).
3) Selbstabwertung:
Scham und Geheimhaltung führt oftmals zu einem ins Negative verzerrten Selbstbild. Betroffene empfinden sich bei persönlichen Errungenschaften dann häufig als Betrüger/in - nach dem Motto: „Mein Erfolg ist eigentlich gar nicht gerechtfertigt. Wenn alle wüssten, wie sehr ich unter meinen Ängsten und Sorgen leide, würde der ganze Bluff direkt auffallen“. Typisch sind auch Gedanken wie: „Hoffentlich durschaut niemand meine Angst – mich würde doch sonst niemand mehr ernst nehmen“.
4) Soziale Isolation:
Scham führt in der Regel dazu, dass Betroffene sich mehr auf das Verbergen ihrer Probleme konzentrieren, als auf deren Lösung. Folge dessen ist insbesondere ein unangemessenes Vermeidungs- und Rückzugsverhalten. Ein Verbergen von Angst kann somit langfristig zu sozialer Isolation führen, z.B. wenn Betroffene immer wieder Ausreden erfinden, um bestimmte Aktivitäten (z.B. Einladungen) zu vermeiden. Früher oder später bilden sich nämlich Freunde und Bekannte unter Umständen ein falsches Urteil über die Hintergründe eines solchen Verhaltens. Dies wiederum kann auf Dauer soziale Beziehungen beeinträchtigen.
5) Symptomverstärkung:
Der Versuch, bestimmte unerwünschte Symptome vor anderen Menschen zu verbergen, bewirkt oftmals den gegenteiligen Effekt – die Symptome treten erst recht auf. Entsprechend lautet ein Leitsatz der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT): „Wenn du nicht bereit bist, es zu haben, dann bekommst du es“. Zum Beispiel besteht bei sozialen Ängsten oft ein starker Wunsch, bestimmte Symptome wie Zittern, Schwitzen oder Erröten vor anderen zu verbergen. Jeder Versuch der Unterdrückung derartiger Symptome führt jedoch paradoxerweise umso eher dazu, dass diese in Erscheinung treten. Ein weiterer Teufelskreis…
Was also tun, um aus dem Teufelskreis aus Angst, Scham und Geheimhaltung auszubrechen?
Selbst-Offenbarung als Weg aus dem Teufelskreis:
Aus dem zuletzt genannten Effekt der paradoxen Symptomverstärkung lässt sich ein erstaunliches Phänomen ableiten, das ich selbst in der Arbeit mit Betroffenen schon mehrfach erleben konnte. Vor Menschen, die von der Angst des/r Betroffenen wissen, tritt die Angst oftmals gar nicht auf. Da in diesem Fall der enorme Druck wegfällt, die Angst um jeden Preis zu verbergen, schwindet diese zumeist und an ihrer Stelle tritt Entspannung ein. Schließlich muss man der eingeweihten Person nichts mehr beweisen oder ein falsches Bild der Tatsachen vermitteln.
Ehrlichkeit und Selbstoffenbarung sind also ein ganz zentraler, wenn auch kein einfacher, Schritt zur Überwindung von Angst und ihrer oben genannten Folgeerscheinungen. Machen Sie sich dazu zunächst Kosten und Nutzen der Geheimhaltung Ihrer Ängste bewusst, sowohl kurzfristig als auch auf lange Sicht.
Wenn Sie zu dem (wahrscheinlichen) Schluss kommen, dass die oben dargestellten Nachteile überwiegen, empfehle ich Ihnen Folgendes: Wenden Sie sich an eine Person, die Ihnen wohlgesonnen ist und der Sie absolut vertrauen und bitten Sie diese um ein vertrauliches Gespräch. Beschreiben Sie dieser Person ohne Umschweife die Problematik, um die es geht (also Ihre konkrete Angst, Befürchtung, Sorge o.Ä.) und welche Auswirkungen diese auf Ihr Leben hat. Erläutern Sie auch Ihre Befürchtungen, die zur bisherigen Geheimhaltung der Problematik geführt haben. Schildern Sie auf Nachfrage, wie diese Person Sie am besten unterstützen kann (z.B. durch Verständnis, Ermutigung oder bloßes Zuhören). Natürlich können Sie Ihre Vertrauensperson auch noch einmal explizit um Stillschweigen gegenüber anderen Menschen bitten – was sich aber in der Regel von selbst versteht.
Diese Entscheidung, den Teufelskreis durch aufrichtige Selbstoffenbarung zu durchbrechen, kostet zwar große Überwindung – doch der Effekt ist in der Regel immer lohnenswert. Bei diesem mutigen Vorhaben wünsche ich Ihnen viel Erfolg!
Falls Sie sich eine vertrauliche und professionelle Begleitung bei der Überwindung von Ängsten und Sorgen wünschen, dann setzen Sie sich gerne zur Vereinbarung eines unverbindlichen Kennenlerngespräches mit mir in Verbindung. Ich freue mich auf Ihre Kontaktaufnahme!
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