Stellen Sie sich einmal vor, wie Sie eines Tages guter Dinge von einer Verabredung nach Hause laufen und ca. 20 Meter vor Ihrer Haustür auf einmal hinter sich ein lautes Knurren wahrnehmen. Sie drehen sich um und erblicken unweit von sich eine ausgewachsene Bulldogge - ein Muskelpaket auf vier Beinen – welches Sie zunächst mit gefletschten Zähnen fixiert und schließlich mit Gebell auf Sie zu hetzt. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprinten Sie in Windeseile zu Ihrer Eingangstür, die Sie gerade noch rechtzeitig erreichen, um sie zwischen sich und das wütende Ungetüm zu bringen. Was verspüren Sie in diesem Augenblick? Welche Empfindungen machen sich in Ihrem Körper bemerkbar?
Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion:
Ohne dass Sie bewusst etwas dafür tun mussten, hat Ihr Gehirn in Sekundenbruchteilen eine Kaskade körperlicher Reaktionen ausgelöst und Ihnen dadurch buchstäblich die Haut gerettet. In dem Augenblick, in welchem das Gehirn die aktuelle Gefahr registriert, sendet es ein Alarmsignal an sämtliche Organe, sich für das Erbringen körperlicher Höchstleistung bereitzumachen.
Die so genannte Kampf-oder-Flucht-Reaktion (engl.: fight-or-flight-response) setzt ein: Die Atmung beschleunigt sich, um möglichst viel Sauerstoff aufzunehmen, welcher durch das auf Hochtouren arbeitende Herz zu den großen Muskelgruppen gepumpt wird. Deren Anspannung ermöglicht die rasche Flucht aus der Gefahrenzone (man fühlt sich buchstäblich „wie auf dem Sprung“). Dabei verengen sich die Blutgefäße der Haut, was sich in Blässe („vor Angst kreidebleich sein“) sowie Taubheit, Kribbeln oder Kälteempfindungen in den äußeren Gliedmaßen („Gänsehaut“, „kalte Füße bekommen“) äußern kann. Durch die Bereitstellung einer hohen Menge an Energie kann es jedoch durchaus auch zu einem Hitzegefühl kommen - auftretendes Schwitzen verhindert dabei eine Überhitzung des Körpers. Wo zuvor möglicherweise noch Müdigkeit war, ist jetzt absolute Wachheit und Fokussierung. Alle nicht überlebensnotwendigen körperlichen Prozesse wie Appetit, Verdauung und sexuelle Reaktionsfähigkeit werden auf ein Minimum reduziert.
Wozu das Ganze?
Doch wie erklärt sich diese komplexe Notfallreaktion unseres Körpers? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in der stammesgeschichtlichen Vergangenheit des Menschen. Ohne das Gefühl der Angst und die durch sie ausgelöste Kampf-oder-Flucht-Reaktion hätte die Spezies Mensch (ebenso wie viele Tierarten) im Laufe der Evolution schlichtweg nicht überlebt. Die permanente Bedrohung durch wilde Tiere, wie z.B. dem berüchtigten Säbelzahntiger, haben ein hochsensibles Alarmsystem sowie einen instinktiven Flucht- und Verteidigungsmechanismus erforderlich gemacht. Und genau dieses biologische Programm ist auch heute noch tief in uns verankert. Und das zu Recht: Denn diese faszinierende und hocheffektive Einrichtung der Natur erfüllt noch heute manchmal ihren Zweck (z.B. bei der Flucht vor bissigen Hunden…).
Die Betonung liegt jedoch auf manchmal. Denn die vielfältigen Ängste, die den Menschen von heute quälen, rühren nur noch selten von einer akuten Gefahr für Leib und Leben her. Häufig handelt es sich um an und für sich ungefährliche Situationen, die jedoch fälschlicherweise von unserem für Gefahren sensibilisierten Gehirn als bedrohlich interpretiert werden. Salopp ausgedrückt: Der Säbelzahntiger der Steinzeit entspricht dem cholerischen Chef der Neuzeit.
Unser „steinzeitliches“ Gehirn kann nämlich nicht zwischen einer echten und einer rein gedanklichen Gefahr unterscheiden. Mit der Folge, dass unser Körper wie beschrieben reagiert. Tatsächlich gibt es kaum einen Unterschied zwischen der beschriebenen Notfallreaktion auf eine akute Gefahrensituation und den körperlichen Auswirkungen einer akuten Panikattacke – mit dem Unterschied, dass die körperlichen Symptome bei letzterer als äußerst unangenehm und wenig hilfreich empfunden werden. Nichtsdestotrotz – all diese Symptome im Zusammenhang mit Angst sind vor dem Hintergrund dieser biologisch sinnvollen Reaktion zu 100 % erklärbar und stellen somit keine Abnormität dar.
Angst und ihre körperlichen Begleiterscheinungen sind zwar äußerst unangenehm, jedoch zugleich vollkommen ungefährlich!
Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion der Moderne:
Nun haben wir heutzutage das Glück, auf unserem Nachhauseweg keinem Säbelzahntiger und auch nur selten einer wilden, besitzerlosen Bulldogge zu begegnen. Doch das Gefühl der Angst ist dennoch vielen Menschen bestens bekannt, auch ganz ohne Gefahr für Leib und Leben. Nehmen wir als Beispiel eine vielen Menschen vertraute Situation: Sie müssen einen Vortrag vor mehreren Personen halten – das heißt, Sie befinden sich im Zentrum der prüfenden Aufmerksamkeit durch andere. Auch wenn eine derartige Situation nicht zwangsläufig zu einer derart starken Angstreaktion wie im Bulldoggen-Beispiel führt (aber dennoch kann), verspüren viele Menschen vergleichbare körperliche Reaktionen: Herzklopfen, zitternde feuchte Hände, Schweißperlen auf der Stirn, einen trockenen Mund und ein flaues Gefühl im Magen (als Resultat der eingeschränkten Verdauungstätigkeit) sowie möglicherweise auch den Impuls, aus der Situation zu flüchten.
In anderen Worten: Unser biologisches Überlebensprogramm tritt in Aktion, ungeachtet der Tatsache, dass keine „reale“ Gefahr vorliegt. Doch das Gehirn macht an dieser Stelle keine Unterscheidung, sodass der Körper letztendlich unhinterfragt den Befehl ausführt „Mach dich bereit für Angriff oder Flucht“. Das bedeutet also, Ihr Körper tut genau das, was er bei auftretender Angst tun soll (es wäre sogar problematisch, wenn er dies nicht täte).
Um diese überschießende Reaktion abzumildern, ist es wichtig, sich den eigenen Vorstellungen von Gefahr ohne Vermeidung, Unterdrückung oder Flucht zu stellen, um dem Gehirn durch eine neue Erfahrung verständlich zu machen, dass keine tatsächliche Gefahr von derartigen Situationen ausgeht. Dies führt im Verlauf der Zeit zu einem Gewöhnungseffekt (man spricht von Habituation) und somit zu einem Nachlassen der körperlichen Aktivierung. Möglichweise haben Sie ja auch die Erfahrung gemacht, bei Ihrem vierten oder fünften Vortrag vor Publikum deutlich souveräner und gelassener zu sein, als beim allerersten – Sie und Ihr Körper haben sich also an die Situation gewöhnt. Zudem kann es hilfreich sein, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich bei den angstauslösenden Befürchtungen „nur“ um Gedanken und Vorstellungsbilder handelt, die Ihnen letztlich nichts anhaben können.
Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion äußert sich darüber hinaus im Alltag jedoch meist in eher unterschwelligen Beschwerden, vor allem im Zuge chronischer Überlastung. Da Angriff oder Flucht heutzutage kaum mehr zeitgemäße Reaktionen darstellen, ließe sich treffender von der Stress-Reaktion des Körpers sprechen.
Als typische Begleiterscheinungen von chronischem Stress treten häufig Appetitlosigkeit, Magen-Darm-Beschwerden, Schlafstörungen oder sexuelle Unlust bzw. eine ausbleibende sexuelle Erregung auf. Sie erinnern sich – alle nicht unmittelbar überlebensnotwendigen körperlichen Funktionen werden bei Angst und letztlich auch bei Stress auf ein Minimum reduziert, nämlich Verdauung, Schlaf und Sexualität.
Fazit:
Die körperliche Angstreaktion ist Fluch und Segen zugleich. Ohne sie hätte die Menschheit den vielfältigen Gefahren im Verlaufe der Evolution wohl kaum trotzen können und auch heute noch hat sie ihre Berechtigung als wichtiger Schutzmechanismus vor drohender Gefahr. Zugleich handelt es sich bei der Angst um ein sehr sensibles Warnsystem, welches gerade in der heutigen, von vielfältigen Leistungsansprüchen geprägten Zeit oft „falschen Alarm schlägt“. Ursache dessen ist die fehlende Unterscheidung unseres Gehirns zwischen tatsächlichen und lediglich vorgestellten Gefahren. Doch durch entschlossenes Handeln und eine aktive Auseinandersetzung mit unangemessen starken Angstsituationen kann diese überschießende Reaktion wieder herabreguliert werden – wir sind also in dieser Hinsicht keine „Opfer unserer Gene“, sondern haben unser Erleben selbst in der Hand!
Wenn Sie sich in den beschriebenen Beispielen oder Beschwerden wiedererkennen und sich professionelle Unterstützung bei deren Überwindung wünschen, dann kontaktieren Sie mich gerne. Ich freue mich über Ihre Kontaktaufnahme!
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