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Auge in Auge mit der Angst: Mein Erfahrungbericht

In diesem Blogartikel möchte ich meine persönliche Geschichte im Umgang mit Angst beschreiben. Der Schwerpunkt meiner psychologischen Online-Beratungen im Bereich Angstbewältigung legt die Frage nahe (die mir hin und wieder auch von Bekannten gestellt wird), wie eigentlich mein persönlicher Bezug zum Thema Angst aussieht. Mit diesem hoffentlich gleichermaßen lehrreichen wie unterhaltsamen Erfahrungsbericht möchte ich genau auf diese Frage eingehen. Zugleich erhoffe ich mir, Sie mit diesem Bericht zu inspirieren, sich Ihren eigenen Ängsten mutig zu stellen. Denn letztendlich wird sich durch bloßes Aufnehmen von Informationen noch nichts an Ihrer Angst verändern, sondern erst durch die entschlossene Anwendung des Gelernten in der Praxis.


Meine Geschichte beginnt im Jahr 2013 in der Stadt Essen, wohin mich ein fünfwöchiges Praktikum im Rahmen meines Psychologiestudiums führte. In diesen fünf Wochen wollte ich natürlich jede freie Zeit dazu nutzen, um die Sehenswürdigkeiten des (überraschend vielseitigen) Ruhrgebiets kennenzulernen. Und so führte mich mein Entdeckerdrang eines sommerlichen Tages zum Wahrzeichen der Stadt Bottrop. Aussichtspunkt und Architekturhighlight zugleich, thront der so genannte „Tetraeder“ von Bottrop über der Stadt:


Vor meinen Augen tat sich ein überdimensionales und pyramidenähnliches Gebilde auf. Was mich zu diesem bizarr anmutenden Gestänge führte? Auf den insgesamt drei verschieden hohen Aussichtsplattformen des Tetraeders, welche über eine schmale Stahltreppe erklommen werden können, lässt sich ein herrlicher Ausblick über das umliegende Ruhrgebiet genießen. Vorausgesetzt, man leidet nicht unter Höhenangst…


Mein lästiger Begleiter seit Kindesbeinen:

Solange ich mich zurückerinnern kann, litt ich unter Höhenangst, die mir den für andere so vergnüglichen Aufenthalt auf Aussichtspunkten, hohen Gebäuden, Hängebrücken oder ähnlichem stets zur Qual machte. Wie unbeschwert (und scheinbar waghalsig) andere Menschen in tiefe Schluchten oder von Wolkenkratzern herabblicken können, war mir schon immer ein Rätsel. Alleine die Vorstellung löste in mir schon Beklemmungen aus. Zwar war mir klar, dass meine Angst zu einem gewissen Grad irrational oder übertrieben war – doch wenn ich mich dann doch mal in größerer Höhe befand, beschlichen mich schnell Zweifel: „Wer kann mir schon zu 100% garantieren, dass ich nicht doch das Gleichgewicht verliere und in die Tiefe stürze?!“ (Die Stimme der Angst kann schon sehr erfinderisch sein…). Und so vermied ich derartige Situationen meistens, um die Angst gar nicht erst aufkommen zu lassen – obwohl ich mir dieser ungünstigen Scheinlösung meines Problems stets bewusst war.


Doch dies sollte sich, nach all den Jahren der Vermeidung, nun endlich ändern. Ich wollte es einfach nicht mehr länger hinnehmen, dass meine übermäßige Angst mich mein ganzes Leben lang davon abhalten sollte, bestimmte sehenswerte Orte und Aktivitäten zu erleben. So stand ich nun also mit weichen Knien und pochendem Herzen vor diesem geometrischen Riesen aus Stahl und fasste einen Entschluss: Ich wollte all das, was ich in meinem Studium über die Methode der Angstkonfrontation (Fachbegriff: Exposition) schon so oft gehört hatte, am eigenen Leibe erfahren und auf den Prüfstand stellen. Wie sollte ich als zukünftiger Psychotherapeut jemals von Ängsten betroffene Menschen von diesem Vorgehen überzeugen können, wenn ich nicht einmal selbst dazu bereit war, mich auf dieses einzulassen?


Die Theorie sagt voraus, dass eine Konfrontation mit der Angst kurzfristig zu einem starken Angstanstieg („na super…!“), aber dann - bei einem ausreichend langen Verbleiben in der gefürchteten Situation - zu einem Gewöhnungseffekt (Fachbegriff: Habituation) führen wird und die Angst allmählich wieder nachlässt.

Glockenförmige Angstverlaufskurve bei der Angstkonfrontation
Typische Angstverlaufskurve bei der Konfrontation

Mein angespanntes Innenleben war jedoch von dieser Theorie noch nicht so recht überzeugt… Die beiden Handläufe mit meinen Händen fest umklammert, stieg ich mit zaghaften Schritten die ersten Stufen der nach unten hin vergitterten und somit durchsichtigen Metalltreppe („oh, was für eine nette Überraschung…“) zur ersten Plattform des Tetraeders hinauf (18m Höhe). Meinem hämmernden Puls zufolge lag der angestrebte Gewöhnungseffekt jedoch noch in weiter Ferne (genauso wie die zwei weiteren Plattformen über mir).


Nach wie vor auf der niedrigsten Plattform stehend, hörte ich auf einmal die trügerische innere Stimme meiner Angst, die mich offensichtlich vor einem weiteren Aufstieg abhalten wollte: „Du hast es erfolgreich bis hierhin geschafft, das reicht doch wohl fürs Erste! Zeit, für den Abstieg!“. Vermeidung gilt als Feind erfolgreicher Angstbewältigung – das wurde mir glücklicherweise in diesem Augenblick wieder bewusst, sodass ich – meinem Impuls zuwiderhandelnd – zielstrebig die nächsten Stufen zur zweiten Plattform in Angriff nahm. Doch erneut schlichen sich Vermeidungstendenzen ein. Diesmal in Form subtiler Gedanken wie: „Bloß nicht nach unten schauen, konzentriere dich einfach nur auf die zweite Plattform“. Ich versuchte also mit aller Macht, gegen die Angst zu kämpfen – obwohl ich genau wusste, dass der Erfolg einer Angstkonfrontation von einem Zulassen und bewussten Erleben der sich steigernden Angst abhängt.

Ausblick vom Tetraeder Bottrop
Auf dem Weg zur 2. Plattform des Tetraeders

Mit beschleunigtem Atem (der gewiss nicht von der Anstrengung des Treppensteigens herrührte) erreichte ich schließlich die zweite Plattform (in 32m Höhe), die eine weitere Überraschung für mich parat hielt. Denn hier fiel mir mit einem Schrecken auf, dass die Plattformen des Tetraeders nicht statisch waren, sondern lediglich an Stahlseilen hängend frei hin und her schwangen („Mein absoluter Traum…“). Mein Angstpegel stieg nach dieser Erkenntnis noch einmal sprunghaft an („also läuft doch alles nach Plan?!“). Ich richtete den Blick nach innen: Herz kräftig am klopfen, Beine wackelig, leichter Schwindel, Muskulatur angespannt, flaues Gefühl im Magen, trockener Mund, Angstlevel bei 80%. Der Teil mit dem Angstanstieg schien auf jeden Fall schon gut zu funktionieren! 😃


Mein eigener Stolz hielt mich glücklicherweise erneut von einem vorzeitigen (aber doch so verlockenden!) Abstieg ab, sodass ich mich schließlich zur finalen Plattform aufmachte (nach dem Motto: „Augen auf und durch“). Über eine enge Wendeltreppe stiegen ich und meine Angst die letzten Stufen zum höchsten Punkt des Tetraeders hinauf (38m Höhe!). Stocksteif stand ich nun also an meinem Ziel und bemühte mich, dem starken Verlangen eines sofortigen Wiederabstiegs zu widerstehen. Jetzt galt es, abzuwarten („ab jetzt kann es ja nur besser werden“). Am Geländer der Plattform festgekrallt und bewusst tief durchatmend (Stimme der Angst: „Ein falscher Schritt und dein Leben ist vorbei“) ließ ich die Tortur über mich ergehen…


Doch auf einmal dämmerte mir, weshalb ich eigentlich hier war: Doch wohl sicher nicht, um mich nur durch meine Angst hindurch zu quälen! Zu sehr mit meinem „Kampf ums Überleben“ beschäftigt, vergaß ich bis hierhin völlig, dass ich doch eigentlich wegen des Ausblicks gekommen war. Und so stand ich eine ganze Weile dort oben und beobachtete, sowohl die Szenerie als auch die Angst in meinem Körper. Und wartete einfach nur ab… Und tatsächlich: Allmählich schien sich mein Körper an die Situation zu gewöhnen. Meine Angst war tatsächlich dabei zu kapitulieren und von mir abzulassen – wohl auch, weil ich ihre trügerischen Ratschläge lange genug ignoriert hatte. Angespornt von dieser Erkenntnis, ging ich dann mit kleinen Schritten – noch immer vorsichtig, aber auch neugierig – einmal um den gesamten kreisförmigen Weg der Plattform herum und hielt in jeder Himmelsrichtung inne, um meinen Blick über die weitläufige Landschaft schweifen zu lassen. Meine Strapazen hatten sich schlussendlich gelohnt!

Am höchsten Punkt angekommen - Ziel erreicht!

Glücklich und erleichtert trat ich guten Gewissens wieder den Abstieg an, und siehe da: Die mittlere Plattform erschien mir auf dem Rückweg auf einmal deutlich weniger furchteinflößend, als beim Aufstieg. Das Gleiche galt auch für das Ankommen auf der untersten Plattform, auf welcher mir nun sogar mein zuvor panisches „Anklammern“ am Geländer albern und überflüssig erschien. Schließlich wieder mit festem Boden unter den Füßen spürte ich den Stolz darüber, meiner Angst erfolgreich die Stirn geboten zu haben. Und obwohl ich rein rational wusste, dass die Methode der Angstkonfrontation wirklich funktioniert, war es noch einmal etwas ganz anderes, dies hautnah am eigenen Leib zu erfahren…

Tetraeder in Bottrop
Ein stolzes Selfie nach dem Abstieg musste sein :-)

Was ich daraus gelernt habe:

Angstkonfrontation: Leichter gesagt, als getan:

Wie oft hört oder liest man heutzutage den so leicht daher gesagten Satz „Konfrontiere dich mit deiner Angst“? Wie viel Überwindung dies tatsächlich kostet und was Menschen abverlangt wird, die sich (z.B. im Rahmen einer Psychotherapie) auf eine Konfrontation mit ihrer Angst einlassen, wurde mir erst nach meiner Erfahrung auf dem Tetraeder so richtig bewusst. Wenn selbst eine solch banale Situation wie das Erklimmen eines Aussichtspunktes eine derart intensive Angstreaktion bei mir hervorrief, wie sehr litten dann wohl andere Menschen unter ihren Ängsten, die tagtäglich damit konfrontiert waren? Meine Empathie für Betroffene hat sich durch diese Erfahrung auf jeden Fall vertieft.


Selbstbestimmung statt Angstfreiheit:

Eine weitere wichtige Erkenntnis war, dass Angstfreiheit keine Voraussetzung für ein Leben entsprechend der eigenen Wünsche und Vorstellungen sein muss. Auch trotz meiner übermäßigen Angst gelang es mir, den Ausblick von der Spitze des Tetraeders mit eigenen Augen zu sehen. Die Motivation hinter einer Angstkonfrontation sollte also nie das bloße Ziel der Angstfreiheit sein. Fragen Sie sich stattdessen, wofür es sich wirklich lohnt, die Angst (zumindest vorübergehend) in Kauf zu nehmen. Von welchem erstrebenswerten Ziel hält Ihre Angst Sie ab? Wenn Sie den hinter Ihrer Angst verborgenen Werten und Sehnsüchten auf die Spur kommen, werden Sie mit einem ungeheuren Motivationsschub belohnt!


Üben, üben, üben:

Natürlich war ich nach meiner erfolgreichen Besteigung des Tetraeders nicht direkt befreit von meiner Höhenangst. Hierzu ist in aller Regel nämlich mehr als nur eine einzige Angstkonfrontation erforderlich (meine Zeit im Ruhrgebiet war einfach zu kurz, um sie nur mit Konfrontationsübungen zu verbringen – und ja, ich bin mir bewusst, dass sich das nach Vermeidung anhört😉). Dennoch war mein Erfolgserlebnis insofern nachhaltig, dass ich seitdem keine sich bietende Situation in großer Höhe mehr vermied, um meiner Angst zu entweichen. Ob ich mich in derartigen Höhensituationen heute immer noch angespannt und nervös fühle? „Ja“ (wenn auch deutlich weniger als früher). Ob meine Höhenangst weiterhin mein Leben bestimmt und mir diktiert, was geht und was nicht? Ganz klar: „Nein!“.


Zum Abschluss noch ein kleiner „Fun-Fact“: Schon Goethe machte sich (noch lange bevor die moderne Verhaltenstherapie darauf aufmerksam wurde) die Methode der Angstkonfrontation zunutze, indem er den 142 Meter hohen Turm des Straßburger Münsters bestieg und dort erfolgreich seine Höhenangst besiegte:


"Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward. […] Ich habe es auch wirklich darin soweit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals wieder aus der Fassung setzen konnte.“

(J.W. von Goethe, „Dichtung und Wahrheit“)


 

Für professionelle Unterstützung bei der Überwindung Ihrer Ängste stehe ich Ihnen im Rahmen meines Beratungsangebotes gerne zur Verfügung. Setzen Sie sich gerne zur Vereinbarung eines unverbindlichen Kennenlerngespräches mit mir in Verbindung. Ich freue mich auf Ihre Kontaktaufnahme!

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